Bisher weitgehend unbemerkt (vgl. aber zB Strafrecht Online) haben zwei inzwischen drei Strafsenate des BGH zu der Frage Stellung genommen, was eigentlich mit den Vorratsdaten geschieht, die bereits an die Ermittlungsbehörden übermittelt wurden, während das Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen die Vorratsdatenspeicherung (VDS) beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhängig war. Der 4. Strafsenat (StS) äußerte sich schon im November, obwohl es für seine Entscheidung gar nicht auf diese Frage ankam (Juristen sprechen von einem “obiter dictum”); Mitte Januar kam es vor dem 1. [Update] und 3. [/Update] Strafsenat des BGH zum Schwur.
Wir erinnern uns: Nachdem Verfassungsbeschwerden gegen die VDS erhoben worden waren, hat das BVerfG mit mehreren einstweiligen Anordnungen (u.a. vom 11. März 2008 und 28. Oktober 2008) zwar die Speicherung als solche nicht angetastet, wohl aber den Zugriff auf die Vorratsdaten erheblich erschwert. In der Folge konnten während des schwebenden Verfahren durchaus Vorratsdaten an Polizei und Staatsanwaltschaften übermittelt werden – nur mussten die Tatvorwürfe (einigermaßen) schwer wiegen. Aufgrund der so übermittelten Vorratsdaten wurden inzwischen Beschuldigte verurteilt, einer etwa vom Landgericht Stuttgart wegen Diebstahls und Beihilfe zum Diebstahl (“Schmiere stehen”). Über seine Revision hatte der 1. Strafsenat des BGH zu entscheiden – und sein Wort ist eindeutig:
Telekommunikationsdaten, die vor dem 2. März 2010 auf der Grundlage der einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts vom 11. März 2008 […], wiederholt und erweitert mit Beschluss vom 28. Oktober 2008 […], zuletzt wiederholt mit Beschluss vom 15. Oktober 2009 […] rechtmäßig erhoben und an die ersuchenden Behörden übermittelt wurden, bleiben auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 2010 […] in einem Strafverfahren zu Beweiszwecken verwertbar.
[Update]Der 3. Strafsenat hat sich am 13. Januar ähnlich geäußert.[/Update]
Mit anderen Worten: Dass “die VDS” vom Bundesverfassungsgericht gekippt wurde, hilft den aufgrund von Vorratsdaten verfolgten und verurteilten Beschuldigten gar nichts.
Die Argumentation scheint mir handwerklich vertretbar zu sein; ihre Kernpunkte lauten:
- die einstweilige Anordnung des BVerfG bleibt selbst dann eine taugliche Grundlage für die Übermittlung der Vorratsdaten, wenn das zugrundeliegende Gesetz später für verfassungswidrig und nichtig erklärt wird
- daran ändert es auch nichts, dass das Gesetz “ex tunc”, wie die Juristen sagen, also rückwirkend, also von Anfang an nichtig ist, denn die Anordnung wirkt für den Übergangszeitraum gleichsam wie ein Gesetz
Aber jenseits der dogmatischen Argumentation bleiben doch einige Zweifel an der Entscheidung. Diese liegen auf mehreren Ebenen:
- Für die Akzeptanz unserer Strafjustiz ist es stets bedenklich, wenn sich eine Entscheidung jenseits juristischer Argumentationsmuster nicht mehr plausibel machen lässt, also bildhaft gesprochen den “Oma-Test” nicht besteht: Wenn man eine Entscheidung nicht in wenigen Sätzen erklären kann, sollte man lieber noch einmal in sich gehen, ob man nicht doch zumindest auf der Wertungsebene falsch liegt. Gerade erfahrene Richterkollegen berufen sich hier gerne (und durchaus zu Recht) auf ihr “Judiz”, ihr “Bauchgefühl”. Aus dieser Perspektive ist der Beschluss des 1. Strafsenats nur schwer verständlich. Das Bundesverfassungsgericht hatte ein verfassungsrechtlich heikles Gesetz erst einmal eingeschränkt, um es später ganz zu kippen – und aufgrund der Einschränkung sollen Betroffene später schlechter dastehen, als wenn das BVerfG das Gesetz lediglich ganz gekippt hätte, ohne es erst einmal nur einzuschränken? Denn hätte es die einstweiligen Anordnungen nicht gegeben, so bliebe heute nichts mehr, worauf sich die Übermittlung der Vorratsdaten stützen ließe – “das VDS-Gesetz” ist ja rückwirkend nichtig … Dass die einstweiligen Anordnungen vom BGH also zum Eigentor für die Gegner der Vorratsdatenspeicherung umgedeutet werden, dürfte nicht nur Nichtjuristen kaum noch zu vermitteln sein.
- Das gewichtigere Argument allerdings ist ein verfassungsdogmatisches: Grundrechte können nach der Ordnung des Grundgesetzes nur durch Gesetz (oder aufgrund eines Gesetzes) eingeschränkt werden (Art. 19 Abs. 1 GG). Einstweilige Anordnungen des BVerfG sind aus dieser Perspektive also nur dann unproblematisch, soweit sie den Grundrechtsschutz des Bürgers stärken (die wesentlich komplexeren Fragen in Dreiecksverhältnissen möchte ich hier einmal ausblenden). So lag es bei den Anordnungen des BVerfG im VDS-Verfahren, solange es “das VDS-Gesetz” noch gab: Für diesen Zeitraum wirkten sie materiell eingriffsbegrenzend, also grundrechtsfreundlich, weil sie die Rechtslage gegenüber dem angegriffenen Gesetz verbesserten. Mit der (unstreitig rückwirkenden) Nichtigkeit des VDS-Gesetzes aber kehrt sich dieser Effekt um: Nun wirken die Anordnungen – jedenfalls nach der Argumentation des BGH – letztlich rückwirkend grundrechtseinschränkend. Das dürfte nicht nur dem 1. Senat des BVerfG gleichsam das Wort im Munde umdrehen, sondern auch mit Art. 19 GG nur schwer vereinbar sein. Insbesondere scheint mir der Rahmen des § 32 Abs. 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) – der das BVerfG ermächtigt, einen Zustand “vorläufig” zu regeln – gesprengt, wenn der Anordnung im Nachhinein eine dauerhafte und grundrechtseinschränkende Wirkung beigemessen wird.
Der Fairness halber sollte man hinzufügen, dass das BVerfG in der VDS-Entscheidung dem BGH (wohl ungewollt) eine Steilvorlage für seine Entscheidung geliefert hat. Die Verfassungsrichter ordneten nämlich an, dass die während der Geltung der einstweiligen Anordnungen bereits von Strafverfolgungsbehörden angeforderten, aber noch nicht übermittelten (“eingefrorenen”) Daten zu löschen sind (Leitsatz 3). Das lässt auf den ersten Blick den Umkehrschluss zu, dass die bereits an die Behörden übermittelten Daten dann eben nicht zu löschen seien – und genau darauf beruft sich ergänzend auch der 1. Strafsenat.
Überzeugend scheint mir das nicht: Ein solcher Umkehrschluss (eine Regelung wird nicht getroffen, also ist das Gegenteil gewollt) ist natürlich nur valide, wenn die nicht getroffene Regelung überhaupt hätte getroffen werden können. Das war jedoch nicht der Fall. Denn die Frage, was strafprozessual mit aufgrund einer verfassungswidrigen Norm erhobenen Beweismitteln zu geschehen hat, war schlicht und einfach nicht Gegenstand des Verfassungsbeschwerdeverfahrens. Dort ging es nur um die Speicherung (§§ 113a, 113b TKG) sowie die “Abrufnormen” z.B. in der Strafprozessordnung, nicht aber um Fragen der Beweisverwertung. Daher entspricht es einfach nur gutem verfassungsrichterlichen Stil (“judicial self-restraint”), sich zu Fragen nicht zu äußern, die das Verfahren nicht stellt – auch wenn das BVerfG dies gelegentlich durchaus tut. Aus dieser Beschränkung auf die sich tatsächlich stellenden Rechtsfragen nun herauszulesen, die Verfassungsrichter hätten mittelbar die weitere Verwendung der bereits übermittelten Vorratsdaten zulassen wollen, verliert letztlich die Bedeutung des Streitgegenstands im Verfassungsprozessrecht aus dem Blick.
Es bleibt daher nach den Entscheidungen des 1. und 4. StS ein bitterer Nachgeschmack. Wäre ich Strafverteidiger, so wüsste ich nicht, wie ich einem Mandanten erkären sollte, dass er verurteilt wird, obwohl die Beweismittel gegen ihn aufgrund eines verfassungswidrigen und nichtigen Gesetzes erhoben wurden. Der Legitimität unserer Strafrechtspflege tut so etwas jedenfalls nicht gut. Unser Rechtsstaat hat es gar nicht nötig, Menschen mit rechtsstaatwidrig erhobenen Daten zu “überführen”: Die Aufklärungsquote mag sich im Promillebereich verbessern, den Ansehensverlust des Justiz wiegt das aber nicht auf. Wer verurteilt, spricht – in den Worten des BVerfG – auch ein “moralisches Unwerturteil”. Da sollte die Beweisführung sich nicht auf Daten stützen, denen der Makel der Verfassungswidrigkeit anhaftet.